Norwegen: Leben und Arbeiten am Polarkreis

11 Juli 2025

Mit Leidenschaft für die Seelsorge in traditionellen Fischergemeinden. Ein Gespräch mit Dekanin Kristine Sandmæl.

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LWB-Ratsmitglied Dekanin Kristine Sandmæl von der Norwegischen Kirche. Foto: LWB/A. Hillert

LWB-Ratsmitglied Dekanin Kristine Sandmæl von der Norwegischen Kirche. Foto: LWB/A. Hillert

Dekanin Kristine Sandmæl von der Norwegischen Kirche 

(LWI) – Die abgelegenen Lofoten-Inseln in der Arktis-Region Norwegens werden in den Tourismusbroschüren als „wild und wunderschön“ beschrieben, mit majestätischen Bergen, tiefen Fjorden, windumtosten Stränden und malerischen Fischerdörfern. In einem dieser kleinen Dörfer, in dem weniger als 500 Menschen leben, ist Kristine Sandmæl als Landdekanin für zwölf Gemeinden auf dem Archipel mit seinen rund 80 Inseln verantwortlich. 

Neben ihrer hauptamtlichen Tätigkeit ist Sandmæl auch Moderatorin des Rates für ökumenische Beziehungen der Norwegischen Kirche und vertritt die Kirche bei vielen internationalen und ökumenischen Treffen. Darüber hinaus wurde sie auf der letzten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) im polnischen Krakau in den LWB-Rat gewählt und bringt als Mitglied des Ausschusses für ökumenische Beziehungen ihre langjährige Erfahrung ein. 

Ihr heutiges Leben ist ganz anders als das, was sie sich ursprünglich vorgestellt hatte, als sie in einer kleinen Industriestadt südlich von Oslo aufwuchs und davon träumte, Ingenieurin zu werden. „Ich bin ein sehr rational denkender Mensch und mag Naturwissenschaften, daher war Glaube für mich irgendwie fremd“, sagt sie. Aber der Konfirmandenunterricht in ihrer örtlichen Kirchengemeinde, den sie zunächst nur widerwillig besuchte, veränderte ihr Leben auf ungeahnte Weise. 

Erzählen Sie uns etwas über diese abgelegenen Inseln, auf denen Sie zuhause sind. 

Die Lofoten liegen in der norwegischen Arktis, haben aber dank des warmen Golfstroms ein mildes Klima. Seit Jahrhunderten ist die Küstenfischerei die Haupteinnahmequelle, da die Wikinger Methoden zum Trocknen von Kabeljau, auch Skrei genannt, entwickelten, um Stockfisch herzustellen. 

Vor etwa tausend Jahren brauchten die Katholiken in Europa Fisch für den Freitag, an dem traditionell kein Fleisch gegessen wurde, und so begannen die Menschen auf diesen Inseln, ihren getrockneten oder gesalzenen Kabeljau auf dem ganzen Kontinent zu verkaufen. Dieser Handel wurde unsere Lebensader, zur Grundlage unserer Identität, und das ist auch heute noch so. Unser Fisch wird in ganz Europa, Afrika und Lateinamerika verkauft. 

In den letzten 30 Jahren ist auch der Tourismus zu einer wichtigen Einnahmequelle für uns geworden. Für uns als Kirche ist die Arbeit im Winter ganz anders als im Somme. Für uns ist es sehr spannend, Veranstaltungen zu organisieren, die mit unseren Wurzeln als lokale Gemeinschaft zu tun haben, aber auch für Gäste attraktiv sind, wie z.B. Gottesdienste in verschiedenen Sprachen. Die Menschen in dieser Region sind ganz anders als die im Süden, wo man eher zurückhaltend ist. Hier sind die Leute sehr offen und gastfreundlich, sehr entspannt und direkt. Ich fühle mich hier jedenfalls sehr wohl. 

Sie sind im Süden Norwegens aufgewachsen, richtig? 

Ja, ich komme aus einer kleinen Industriestadt südlich von Oslo namens Moss, rund 1.500 Kilometer von meinem jetzigen Wohnort, dem Ort Henningsvær, entfernt. Kennengelernt habe die Inseln nach meinem Abitur als kirchliche Jugendleiterin. Nach dem Theologiestudium war es nicht ganz einfach, im Süden Arbeit zu finden, also bin ich dorthin gezogen und habe 20 Jahre lang als Gemeindepfarrerin gearbeitet, bevor ich mich vor fast zehn Jahren für die Stelle als Landdekan beworben habe. 

Wie sieht ihre Arbeit im Alltag aus? 

Ich bin für neun Pfarrpersonen und zwölf Gemeinden verantwortlich, außerdem für Laiinnen und Laien, die in Bildungs- oder anderen theologischen Bereichen tätig sind. Einmal im Monat finden Arbeitssitzungen statt, aber ein Großteil meiner Arbeit sind auch Verwaltungsaufgaben, ich muss neue Pfarrpersonen suchen, wenn Stellen frei werden, und gute Arbeitsbedingungen für sie sicherstellen 

Sind die rückläufigen Zahlen bei den Pfarrpersonen auch für Sie ein Thema? 

Ja, wir haben eine Generation von Pastorinnen und Pastoren, die in den Ruhestand gehen und nicht ersetzt werden, da sich nicht mehr so viele Menschen für ein Theologiestudium entscheiden. Deshalb hat die Norwegische Kirche verschiedene Wege eröffnet, um Pastorin oder Pastor zu werden. Wer einen Master-Abschluss hat und ein bestimmtes Mindestalter, kann eine verkürzte Pastorenausbildung machen, die kürzer als die üblichen sechseinhalb Jahre. Dieses Modell ist sehr beliebt, und derzeit gibt es mehr Menschen, die diesen Weg einschlagen, als das klassische Theologiestudium zu durchlaufen.

Wie alt waren Sie, als Sie zum ersten Mal den Wunsch verspürten, Pfarrerin zu werden? 

Ich komme aus einer typisch norwegischen Familie, die eigentlich nur zu Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen und an Weihnachten in die Kirche geht. Als rebellische 13-Jährige beschloss ich, Atheistin zu sein. Ich wollte nicht zum Konfirmandenunterricht gehen, wie das eigentlich üblich war. Mein Vater bat mich, es meiner Großmutter zuliebe trotzdem zu tun, und da ich sie sehr liebhatte, bin ich hingegangen. Dieses Jahr hat dann mein Leben nachhaltig verändert. Vielleicht war es das Wirken des Heiligen Geistes, aber ich fühlte mich in der Gemeinde in meiner Heimatstadt willkommen und gut aufgehoben. 

Durch den Gottesdienst und die Menschen, die mir erklärten, warum wir tun, was wir tun, fing ich an, mich für Theologie zu interessieren. Ich bin ein sehr rational denkender Mensch und mag Naturwissenschaften, daher war Glaube für mich irgendwie fremd, aber als ich erkannte, dass es Dinge in der Welt gibt, die sich nicht so einfach erklären lassen, fand ich zum Glauben. Ursprünglich wollte ich Ingenieurin werden, dann Lehrerin, aber ich brach die Lehrerausbildung ab und begann das Theologiestudium in Oslo. Theologie faszinierte mich, also habe ich mit der Ausbildung weitergemacht und wurde 1997 als Pastorin ordiniert. 

Wie würden Sie die Norwegische Kirche heute beschreiben?

Bis 2017 waren wir Staatskirche, und etwa 70 % der Menschen sind noch als Mitglieder eingetragen. Wir gelten als recht progressive lutherische Kirche, die auch Trauungen für gleichgeschlechtliche Paare zulässt. Das ist ein großes Thema für uns, aber wir wollen unsere Kirche zusammenhalten und glauben, dass es wichtig ist, unterschiedlichen Meinungen Raum zu geben. Im Jahr 2016 hat die Synode beschlossen, dass alle Paare das Recht haben zu heiraten, aber wenn eine Pfarrperson die Trauung eines gleichgeschlechtlichen Paares ablehnt, muss der Dekan oder die Dekanin einen andere Pfarrperson finden. Das ist immer ein Balanceakt, aber es funktionier recht gut, wenn wir unterschiedliche Meinungen akzeptieren, solange sie respektvoll geäußert werden. 

Erzählen Sie uns von Ihrer Rolle als Moderatorin des Rates für ökumenische Beziehungen. 

Als ich aufwuchs, gab es bei uns viele Geflüchtete aus Vietnam, Chile und anderen Ländern sowie Wanderarbeiter aus Pakistan und den Philippinen. In meiner Grundschule waren Kinder aus fast einem Dutzend verschiedenen Nationen, sodass ich Vielfalt gewöhnt war und mich für andere Kulturen und Religionen interessierte. Als ich Studentin und Mitglied des Rates für ökumenische und internationale Beziehungen war, wurde das Porvoo-Abkommen über die volle Kirchengemeinschaft von Lutheranern und Anglikanern erarbeitet. Ich fand das sehr interessant und habe dabei viel gelernt. 

Heute sind wir ein vielfältigeres Land mit einer wachsenden katholischen Gemeinde, vielen Einwandererkirchen und einer großen Pfingstbewegung. Wir sind immer noch die größte Kirche, aber bei uns gilt auch das Sprichwort: „Wenn du sehr groß bist, musst du auch sehr freundlich sein.“ Unser Rat erstellt Dokumente für unsere Kirche zu ökumenischen und internationalen Themen und vertritt die Kirche bei ökumenischen Versammlungen oder bei Hilfswerken wie der Norwegischen Kirchenhilfe. 

Was bedeutet es für Ihre Kirche, Teil der weltweiten Kirchengemeinschaft zu sein? 

Ich glaube, den Mitgliedern der Norwegischen Kirche ist es gar nicht richtig bewusst, was es bedeutet, lutherisch zu sein. Da wir so lange Staatskirche waren, verstehen wir uns einfach nur als Christinnen und Christen. Die Frage nach der spezifisch lutherischen Identität stellt sich erst seit kurzem. Ökumenische Arbeit bedeutet daher auch, dass wir diese Frage in unseren Gemeinden thematisieren. 

Als Pastorin versuche ich, dies in Gesprächen und Predigten zu tun. Kürzlich habe ich unsere Pfarrpersonen zu einer Studienreise nach Wittenberg begleitet, um sie zu sensibilisieren, damit sie darüber sprechen können, was es heißt, Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein. Es wird sicherlich Zeit brauchen, bis diese Ideen an der Basis ankommen. Aber bei Taufen sprechen wir beispielsweise jetzt davon, dass die Täuflinge in die weltweite Gemeinschaft aufgenommen werden, nicht nur in unsere Kirche. Und bei der Konfirmation erkläre ich den Jugendlichen, dass wir in jeder lutherischen Kirche auf der ganzen Welt ein Zuhause haben. 

LWB/P. Hitchen
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Norwegen