„Wir stehen unmittelbar vor einer Katastrophe“
Interview mit Dr. Fadi Atrash, leitender Direktor des Auguste-Viktoria-Krankenhauses in Ostjerusalem
(LWI) – Am zehnten Tag des Krieges in Israel-Palästina nehmen die Sorgen um das Schicksal der Zivilbevölkerung zu. Mehrere tausend Menschen wurden Berichten zufolge getötet und verletzt, und Hunderttausende werden innerhalb des Gazastreifens vertrieben. Der Krieg betrifft auch die Patientinnen und Patienten und das Personal des Auguste-Viktoria-Krankenhauses (AVH) in Ostjerusalem.
Das AVH, das im Besitz des Lutherischen Weltbundes (LWB) ist und auch von diesem betrieben wird, ist spezialisiert auf die Behandlung von Krebserkrankungen und verfügt ebenfalls über eine Dialysestation. Viele Patientinnen und Patienten haben keinen Zugang zu lebensrettenden Behandlungen oder sitzen im Hospital fest und müssen erleben, wie es in ihrer Heimat zu einer humanitären Katastrophe kommt.
In diesem Interview spricht Fadi Atrash, leitender Direktor des Krankenhauses, über die humanitäre Lage im Gazastreifen und die Auswirkungen des Krieges auf die Patientinnen und Patienten und auf das Personal.
Dr. Fadi, wie beschreiben Sie die aktuelle Situation im Krankenhaus?
Wir befinden uns in einer Notfallsituation und wissen nicht, wie sich die Lage weiter entwickeln wird. Ich habe im Krankenhaus ein Notfallteam zusammengestellt, das unsere Arbeit koordiniert. Wir verfügen über genügend Personal hier, um 24 Stunden rund um die Uhr den Betrieb des Hospitals garantieren zu können. Auf diese Weise müssen nicht so viele Mitarbeitende zwischen dem Krankenhaus und den Orten im Westjordanland pendeln, wo sie wohnen. Diese Fahrten zwischen dem Wohnort und dem Krankenhaus werden aufgrund der zunehmenden Siedlergewalt im Westjordanland immer gefährlicher.
Wir verfolgen eine rein humanitäre Mission. Wir sind auf der Seite unserer Patientinnen und Patienten und derjenigen Menschen, die von dem Krieg und dem Konflikt betroffen sind.
Die meisten der Krebspatienten und -patientinnen, die im AVH behandelt werden, kommen aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen. Wie wirkt sich diese Situation auf sie aus?
Vierzig Prozent unserer Krebspatienten und -patientinnen kommen aus dem Gazastreifen. Als der Krieg letzten Samstag anfing, waren 44 Patientinnen und Patienten für Chemotherapien und 28 für Bestrahlungen eingeplant. Niemand konnte jedoch den Gazastreifen verlassen. Wir haben diese Woche weitere 60 Termine für eine Chemotherapie und 20 für eine Bestrahlung, aber auch diese Patientinnen und Patienten werden nicht kommen.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir 71 Menschen aus dem Gazastreifen – Patientinnen und Patienten und ihre Begleitung – hier im Krankenhaus. Sie können nicht nach Hause zurückkehren, deshalb haben wir sie in einem nahegelegenen Hotel oder im Hospital selbst untergebracht.
Die Patientinnen und Patienten aus dem Westjordanland haben ebenfalls Probleme, zu uns zu kommen, da Städte und Dörfer im Westjordanland abgeriegelt sind und es Berichte über gewalttätige Zusammenstöße zwischen Siedlern und der lokalen Bevölkerung gibt. Die Menschen, die zwischen den Siedlungen unterwegs sind, laufen Gefahr, dass auf sie geschossen wird. Für Donnerstag hatten wir Bestrahlungstermine für 140 Patientinnen und Patienten aus dem Westjordanland geplant, aber nur 40 von ihnen haben das Hospital erreicht. Wenn eine Krebsbehandlung unterbrochen wird, wirkt sich das negativ auf die Prognose aus.
Was leisten Sie im AVH?
Wir bieten Unterkünfte für Patientinnen und Patienten an, die keine andere Möglichkeit haben. Wir behalten die für eine Dialyse vorgesehenen Patientinnen und Patienten hier im Hospital, weil sie diese Blutwäsche jeden zweiten Tag brauchen und eine ausgefallene Dialyse den sicheren Tod bedeutet. Diese Behandlung ist lebensrettend. Wir behalten auch fast alle Kinder aus dem Westjordanland hier, die bei uns eine Dialyse bekommen. Nur so können wir die Kontinuität ihrer Behandlung und die Sicherheit ihrer Familie garantieren.
Abgesehen von diesen Sondermaßnahmen behandeln wir weiterhin Menschen, die an Krebs erkrankt sind oder Nierenprobleme haben.
Wie gehen die Patientinnen und Patienten aus dem Gazastreifen mit den Nachrichten um, die sie erhalten?
Es ist sehr traurig und sehr schwierig für sie. Sie müssen nicht nur die überaus belastende Krebsbehandlung überstehen, sondern auch noch den Verlust von Familienmitgliedern und die Zerstörung ihrer Häuser verarbeiten. Sie schauen den ganzen Tag Nachrichten und versuchen, Kontakt zu ihren Familien aufzunehmen. Sie sehen all diese Zerstörungen und sind von den Menschen getrennt, die sie lieben. Sie leiden. Unsere Pflegekräfte und unsere Teams, die psychosoziale Hilfe leisten, versuchen, sie ständig zu begleiten. Es ist nicht leicht, sie in dieser Situation zu unterstützen.
In den vergangenen Jahren hat das AVH medizinische Teams in den Gazastreifen geschickt, um Verwundete nach Luftangriffen zu versorgen. Ist das noch möglich?
Nein, das ist nicht mehr möglich. Die Zeiten haben sich geändert. Gestern Morgen habe ich einen Freund im UN-Büro zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) angerufen. Er befindet sich jetzt in einer UN-Notunterkunft im Gazastreifen und erzählte mir: „Es gibt keinen Strom, kein Wasser, und humanitäre Hilfe kann nicht geleistet werden, nicht einmal Bluttransfusionen. Die Krankenhäuser müssen eine immense Zahl von Verwundeten und Verletzten behandeln. Leicht verletzte Menschen sterben, weil es keine Medikamente und keine Blutkonserven gibt oder weil sie das Hospital nicht rechtzeitig erreichen.
Wir vom Auguste-Viktoria-Hospital und dem East Jerusalem Network haben vor ein paar Tagen an die internationale Staatengemeinschaft appelliert und davor gewarnt, dass die Situation in den Krankenhäusern im Gazastreifen außer Kontrolle gerät und eine Katastrophe unmittelbar bevorsteht.
Die Menschen im Gazastreifen leben in Angst. Ihre Stimmen werden nicht gehört. Sie machen sich Sorgen um ihre Zukunft und um ihr Schicksal.
Inwiefern ist das Personal hier im AVH von der Situation betroffen?
Drei von vier Beschäftigten hier in Jerusalem stammen aus dem Gazastreifen. Sie können nicht nach Hause. Ein Mitarbeiter hat zwei Cousins verloren, als deren Haus zerstört wurde. Sie befinden sich in einer äußerst schwierigen Lage: Sie möchten zu ihren Familien zurückkehren, aber wir wissen, dass niemand dort hineingelassen wird.
Es ist immens belastend für sie, mit ansehen zu müssen, wie ihre Landsleute im Gazastreifen getötet werden, ohne ihnen helfen zu können. Wir können keine Hilfslieferungen in den Gazastreifen auf den Weg bringen. Wir versuchen, die tägliche Kommunikation mit unserem Personal zu verbessern, und sorgen dafür, dass sie intensiveren Kontakt haben, miteinander reden und sich gegenseitig unterstützen. Wir haben ebenfalls sieben Personalangehörige, die im Gazastreifen im Einsatz sind.
Wie lautet Ihre Botschaft?
Am wichtigsten ist jetzt ein Waffenstillstand und die Eröffnung eines humanitären Korridors für Verletzte und Kranke, damit sie behandelt werden können, und für die Lieferung von Versorgungsgütern, Treibstoff, Wasser und Nahrungsmitteln. Alle Menschen hier sind gegen das Töten der Zivilbevölkerung. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass wir dies als Menschen verurteilen unabhängig von Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit oder Religion. Die humanitäre Antwort sollte auf beiden Seiten gleich sein: Sicherheitsgarantien für Kinder, Frauen und unschuldige Menschen in Israel und Palästina und Öffnung von Korridoren, damit humanitäre und medizinische Hilfe für diejenigen ermöglicht wird, die darauf angewiesen sind.
Wenn Sie die Patientinnen und Patienten des Auguste-Viktoria-Krankenhauses unterstützen möchten, helfen Sie mit Ihrer Spende.
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